Keine »Sexytime« mehr auf Twitch? Veränderte Verhaltensregeln und warum sie das »Problem« nicht lösen.

Wie man ja vielleicht mitbekommen hat, wurden gestern auf der Gaming-Livestream-Plattform Twitch die neuen »Twitch Rules of Conduct« (oder auch Verhaltensregeln) veröffentlicht. Der wichtigste Punkt ist dabei wohl »Dress…appropriately« (»Kleidet euch… angemessen«). Warum diese neue Regel allerdings das von vielen Nutzern thematisierte »Problem« nicht zu lösen vermag und weshalb sich Twitch damit vielleicht sogar in das eigene Fleisch schneidet, erfahrt ihr im nachfolgenden Text.

Was ist eigentlich das »Problem«?

Bei dem »Problem« handelt es sich um die Tatsache, dass einige User (sowohl männlich als auch weiblich) anscheinend ihre körperlichen Reize dazu verwenden, um höhere Zuschauerzahlen und somit vermehrt Spenden zu erzielen. Die Spiele, um die es ja eigentlich geht, stehen dabei im Hintergrund. Abseits des finanziellen Erfolgs damit einhergehend, vermutet man bei besagten Streamern aber auch die Ursache für eine gewisse Verdummung der Community. Vor allem weibliche Streamer fühlen sich durch den Sexismus der Chatter belästigt. Im Ganzen geht der Konflikt soweit, dass man von Prostitution spricht.
Momentan werden vermehrt weibliche Streamerinnen kritisiert, die wie bereits bemerkt gerne ihre weiblichen Reize präsentieren und sogar ihre Webcam entsprechend ausrichten. An dieser Stelle sollte wohl aber angemerkt sein, dass es sehr wohl auch männliche Streamer gibt, die ihre Streams „shirtless“ ausführen. Als bekanntestes Beispiel sollten hier wohl einige Speedrunner der Games Done Quick Events »SGDQ« und »AGDQ« genannt werden. Der Unterschied bei letzteren besteht allerdings darin, dass die Einnahmen bei diesen Runs wohltätigen Zwecken zu Gute kommen und somit die »Prostitution« nicht eigennützig ist.

Mein Problem mit dem »Problem«

Vorab sei wohl angemerkt, dass ich selbst kein Freund der Communityteilhaber bin, die meinen in Chats Streamer belästigen zu müssen. Egal auf welche Weise auch immer. Das es, gelinde gesagt, viele Idioten und Trolle unter den Zuschauern von Gaming-Livestreams gibt, ist ein offenes Geheimnis und es gibt das Moderationsfeature in Chats nicht erst seit gestern.
Wieso ich aber die oben genannte Unterstellung der Prostitution und generell die Kritik gegen leichtbekleidete Streamer nicht teilen kann, soll hier schnell abgeklärt werden:

– Zum einen nehme ich als erwachsener, aufgeklärter Europäer (in anderen Ländern bzw. Kontinenten gibt es natürlich kulturelle oder religiöse Unterschiede) und generell toleranter Mensch keinen Anstoß daran, wenn Menschen in der Öffentlichkeit Haut zeigen. Beispiele sind wie immer bei dieser Argumentation öffentliche Schwimmbäder etc. Das es Menschen gibt, die das anders sehen, ist mir völlig klar. Dennoch fällt es mir schwer an dieser Stelle überhaupt ein Problem zu identifizieren. Dies gilt vor allem für die Deutsche Streamingcommunity.
Schubladen-Denken ist nichts, was ich selbst gerne praktiziere. Ich versuche mich weitestgehend mit Vorurteilen zurückzuhalten. Ganz gelingt einem das natürlich nicht immer, vor allem in der Hitze des Gefechts. Dennoch kann es leicht dazu kommen, dass Leute einer Kategorie zugewiesen werden, mit der sie überhaupt nichts zu tun haben. Begleitschaden, wenn man so will. Um diese Menschen tut es mir sehr Leid. Es wäre wichtiger als Zuschauer und Konsument differenzieren zu können.
– Zu dem sei noch gesagt, dass »Nacktheit« in vielen verschiedenen Medien vorkommt (Bildhauerei, Malerei, Film und Fernsehen, you name it) und es sicherlich nicht umsonst die Redewendung »Sex sells« gibt. Dieser Umstand existiert aber auch schon seit Jahren, wenn nicht sogar seit Jahrtausenden. Muss einem sicherlich nicht gefallen aber sie ist im Großen und Ganzen als Gestaltungsmittel anerkannt. Um Kinder und Jugendliche zu schützen – denn das sollte man im Kontext mit einer Plattform in der es um Gaming geht, sicherlich nicht vergessen – gibt es Alterseinschränkungen und freiwillige Selbstkontrolle. Jeder Streamer hat auf Twitch die Möglichkeit seinen Stream für unter 18 jährige als ungeeignet zu kennzeichnen.
Die Unterstellung der »Prostitution« missfällt mir gänzlich, da es, soweit ich das verstanden habe, bei der Prostitution hauptsächlich auch um die tatsächliche Ausführung des eigentlichen, sexuellen Aktes geht. So gut kenne ich mich mit dem Thema aber auch nicht aus. Ich wage jetzt mal die These, dass es auf Twitch bisher dazu nicht kam. Auch bin ich persönlich noch nicht über den Fall gestolpert, dass einer der Caster sich völlig nackt präsentierte, man also alle Geschlechtsmerkmale sehen konnte. Wenn man noch argumentieren will, dass es bei der Prostitution darum geht, eine Handlung gegen Geld auszuführen, müsste man prinzipiell jeden Partner-Streamer und Caster, der um Spenden bittet, sowie jeden arbeitenden Menschen ebenso der Prostitution bezichtigen.
– Zu dem entspricht die Unterstellung der Prostitution und die daher eingehende Reduzierung der beschuldigten Caster meiner Meinung nach ebenso dem Sexismus. Sexismus mit Sexismus zu bekämpfen, kann ja wohl auch nicht die Lösung sein.
– Mal ganz davon abgesehen, dass einige Communitymitglieder meinen eine regelrechte Hetzjagd gegen bestimmte Streamer zu starten, wiegeln sie damit auch nur die Community auf und geben ihnen neues Futter um Streamer zu belästigen. Denn, wie so oft, fällt jeder Zuschauer sein eigenes (Vor-)Urteil und beschimpft dann auch gerne mal Streamer, die einfach ein bisschen weniger Stoff am Leibe tragen, weil es zum Beispiel an ihrem Standpunkt zu warm ist. An dieser Stelle fördert man also auch keinen toleranten, respektvollen Umgang miteinander, sondern erzielt nur das Gegenteil.
– Und zu guter Letzt stört mich, wie schon oft an anderer Stelle erwähnt, dass man eben solche Caster als die Wurzel des Problems mit den unhöflichen Chattern vermutet. Ich sehe das anders, denn die Ursache eines Chatters, der belästigende Sachen schreibt, ist in erster Linie doch wohl der Chatter selbst, oder nicht? Letztendlich sind wir es alle selbst, die die Entscheidung fällen andere zu verurteilen, beleidigen und so weiter. Wäre es also nicht besser, das Bewusstsein unserer Zuschauer für eine andere Einstellung zu fördern anstatt nur mit weiterem Hass zu antworten?

Warum Twitch das »Problem« nicht löst.

1.) Siehe meine Argumentation unter Mein Problem mit dem »Problem«
Da ich, wie ich an genannter Stelle bemerkt habe, aus den besagten Gründen kein Problem in leichtbekleideten Streamern sehe, gibt es an dieser Stelle eigentlich auch nichts zu lösen. Da dieser Punkt aber wohl den wenigsten ausreichen dürfte, folgen…

2.) »Sex sells«
Die Plattform finanziert sich über Werbeeinahmen. Werbeeinahmen generieren sich aus hohen Zuschauerzahlen. Genannte Streamer generieren hohe Zuschauerzahlen, wenn nicht sogar die höchsten neben Events und Turnieren. Nicht umsonst, sind besagte Streamer ja auch in der Regel verpartnert. Solange also darauf geachtet wird, das neben Haut auch noch Spiele im Stream laufen, können sich die Betreiber kaum beschweren.

3.) PR
Die Regelung dürfte, meiner Meinung nach, lediglich eine Notwendigkeit sein, um nach aussen hin eine „saubere“ Plattform zu repräsentieren. Die aufkommende, starke Kritik innerhalb der Community und die Leidenschaft mit der diese teilweise betrieben wird, werfen kein gutes Licht auf Twitch. Eine explizite Regelung ist daher zwar ein naheliegender Schritt, die Intension diese zu verfassen aber nicht das, was sich die belästigte Community vielleicht erhofft. Mal davon abgesehen, hätte Twitch meiner Meinung nach dringendere Probleme (Stabilität). Aber das ist ein anderes Thema.

4.) Na wenn nicht hier, dann eben woanders.
Eine Konsequenz durch die Regeländerung und deren konsequentes Umsetzen (Man darf gespannt sein, ob dies wirklich so strikt stattfindet) wäre natürlich, dass Streamer, die leichte Bekleidung als Stilmittel verwenden (so möchte ich das jetzt einfach mal ausdrücken, wenn wir sie schon in Schubladen stecken müssen), einfach die Plattform wechseln und ihre Zuschauerschaft mitnehmen. Wieder wäre dies nicht im wirtschaftlichen Interesse von Twitch. Man könnte jetzt dennoch meinen, dass dies die Hauptlösung für alle ist. Dagegen spricht aber, dass es die Zuschauer ja nicht davon abhält trotzdem in anderen Twitch-Streams vorbeizuschauen. Demnach wäre der Belästigung kein Riegel vorgeschoben sondern eben nur Castern mit freizügigen Stilmitteln. Das natürlich immer unter der Voraussetzung, dass diese tatsächlich maßgeblich etwas mit dem Verhalten der Community zu tun hätten.

5.) »Regeln? Das sind doch alles nur Richtlinien.«
Da der Text bei den Verhaltensregeln quasi noch recht frisch ist, bleibt abzuwarten ob die genannten Regeln wirklich wehemend durchgesetzt werden. Eine Garantie dafür, dass leichte Bekleidung auf den Plattformen und somit erhitzte Gemüter unter den Zuschauern verschwinden, sind die bloßen Worte definitiv nicht.

6.) Irgendwie… nehmen sie das nicht ernst, oder?
Die Verhaltensregeln sind auf der oben verlinkten Seite natürlich etwas umgangssprachlicher verfasst, da die Plattform sich natürlich an eine größtenteils junge Zielgruppe wendet. Allerdings drängt sich mir bei sowas, vor allem wenn es um Restriktionen geht, der Eindruck auf, dass man es irgendwie nicht so recht ernst nehmen kann. Es liest sich eher, wie eine Empfehlung, die einem ein guter Kumpel gibt. Vor allem aber die Stellen…:
» * If it’s unbearably hot where you are, and you happen to have your shirt off (guys) or a bikini top (grills), then just crop the webcam to your face. Problem solved.«

»We sell t-shirts, and those are always acceptable. #Kappa«
…unterstreichen diese Empfindung. Der erste Absatz ist ein Lösungsansatz, der  weder gestalterisch noch sonst irgendwie Sinn macht. Da wäre das übliche »Lass doch die Kamera aus.« fast besser gewesen. Gegenargumente werden demnach ins Lächerliche gezogen und man verpasst nicht, im zweiten Punkt auf das eigene Merchandising zu verweisen, auch wenn der letzte Hinweis nicht ernst gemeint ist. Nennt mich engstirnig aber so etwas gehört für mich nicht in Nutzerbedingungen, wenn man die Thematik wirklich engagiert angehen will.

7.) »Jeder ist sich selbst der Nächste.«
Auch wenn die Verhaltensregeln existieren und uns als Streamer oder Zuschauer schützen sollen, so ist man die meiste Zeit doch für sein Handeln und somit eben für seinen Kanal selbst verantwortlich. Mal davon abgesehen, dass einige Streamer sich anscheinend gerne um die Umsetzung von anderen Castern kümmern, anstatt sich an die eigene Nase zu fassen. Man hat natürlich eine Vorbildsfunktion und ebenso die Pflicht dafür zu sorgen, dass es in dem Kanal(-Chat) in gewisser Weise gesittet zugeht. Gerade die Definition von „gesittet“ wirft hier Probleme auf. Ist ein tiefer Ausschnitt noch gesittet oder ist der Rollkragenpullover doch die bessere Idee? Wie bereits mehrmals erwähnt muss jeder eigentlich für sich selbst, eine Definition finden, sollte aber tolerant damit umgehen können, wenn andere es eben anders praktizieren.

8.) Mein Name ist Legion, denn wir sind viele… und dennoch anonym.
Das Grundproblem mit Belästigungen sind wie gesagt, die die sie betreiben und deren Einstellung. Und da man ab bestimmten Zuschauerzahlen als Caster mit eben solchen Belästigungen rechnen muss, sollte man sich dessen bewusst sein und für sich selbst Wege finden, sich von Beleidigungen, Sexismus etc. nicht beeindrucken zu lassen. Natürlich gibt es diverse Methoden den einzelnen Chattern kurzer Hand »den Gar auszumachen« (Timeouten, ignorieren, blockieren etc. etc.) aber es gibt einfach kein endgültiges Hausmittel. Solange die Bereitschaft im menschlichen Wesen steckt, Unfug und schlimmeres zu treiben, wird es einen Weg finden, dieses auch auszuüben. Vor allem im Internet, wo Anonymität nach wie vor den besten Schutz bietet und das Erstellen neuer Accounts auf so ziemlich jeder Plattform quasi mit einem Fingerschnippen funktioniert. Die Anzahl der Streamzuschauer und Broadcaster ist inzwischen gigantisch und nimmt stetig zu, dass es also auch niemals an Nachwuchs von Idioten und Trollen mangeln wird. Da helfen auch die besten Verhaltensregeln nichts.

Zum Schluss

Das ist natürlich alles meine subjektive Auffassung gemischt mit einem Hauch Spekulation, wobei böswillige Unterstellungen von mir nicht beabsichtigt sind. Vielmehr handelt es sich hier um einen Interpretationsversuch, sowie um einen Text zur Förderung der Medienkompetenz im Umgang mit Belästigungen.

An die Leser, die solche Belästigungen eventuell ausüben: Ich hoffe der Text zeigt auf, dass es genug Leute gibt, die sich mit eurem Verhalten beschäftigen und wie groß die Bemühungen sind, euch Einhalt zu gebieten. Nehmt euch vielleicht mal die Zeit und denkt darüber nach, ob es nicht vielleicht viel mehr Spaß machen könnte, nicht ständig die Sau in Chats rauszulassen, wenn man sich tatsächlich mit anderen Leuten im Netz vernünftig unterhält, Gemeinsamkeiten findet und vielleicht… ja vielleicht… sogar den einen oder anderen neuen Freund.

An alle: Ich respektiere natürlich, wenn ihr die Dinge anders seht und bin auf eure Kommentare gespannt, die hoffentlich ebenso respektvoll und ebenso tolerant ausfallen. Vielleicht fallen euch ja selbst Gründe ein, warum die Änderungen der Nutzungsbedingungen zwar löblich aber irgendwie nicht wirklich hilfreich sind. Oder aber ihr wisst selber Wege um dem bösen Treiben der schlechten Community-Seite einhalt zu gebieten und für ein freundliches, respektvolles Miteinander zu sorgen.

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