Neben meinen derzeit favorisierten Formen des Konsums von fiktiven Geschichten, den Games, Comics und TV-Shows, hat sich in letzter Zeit ein weiteres Format in mein Herz geschlichen: Livestreams und VoDs von Pen & Paper-Rollenspielrunden. Doch was sind die Gründe dafür, dass die digitale Übertragung des Wohnzimmerabenteuers sich nun so großer Beliebtheit erfreut, dass wöchentlich rund 5000+ Zuschauer dabei zusehen bzw. ich dem so viel meiner Zeit widme?
Orkenspalter TV, „Das Schwarze Auge“ und „Let’s Plays“
Meine erste richtige Begegnung mit Pen & Paper-Rollenspielen im Videoformat hatte ich im Juni 2014 dank dem deutschen YouTube Kanal OrkenspalterTV, der sich journalistisch genau mit diesem Themenbereich befasst. Damals hatte ich mich besonders für die Berichterstattung über das „Das Schwarze Auge„-Regelwerk interessiert, weil das für mich durch Videospiele, wie „Das Schwarze Auge – Drakensang“ (womit das Singleplayer-Spiel gemeint ist und nicht die komische MMORPG-Browserverwurstung) oder „Blackguards“ und den Werken im Literaturbereich in den Vordergrund gerückt ist.
Zu dieser Zeit wurde auf dem Kanal das „DSA 5 Pen and Paper-Let’s Play mit der DSA-Redaktion“ veröffentlicht, in dem die Beta des damals frisch überarbeiteten Fantasy-Regelwerks vorgestellt wurde. Mein Interesse weckte vor allem aber auch die Kombination aus „Let’s Play“ und etwas, dass so weit wie ich damals wusste, im Wohnzimmer am Tisch gespielt wird. Der Begriff „Let’s Play“ war mir auf YouTube sonst eher im Zusammenhang mit Videospielen bekannt. Wie man es sich vielleicht vorstellt, wenn man eine grobe Ahnung von Pen & Paper Rollenspielen hat, sitzen hier mehrere Spieler um den Tisch und haben jeweils einen eigenen, fiktiven Charakter dessen Rolle sie übernehmen, während der Spielleiter (oder auch DM = Dungeon Master bzw. GM = Game Master) durch das Abenteuer führt. In diesem Fall ist der Spielleiter Alex Spohr aus der DSA-Redaktion und gespielt wird eine gekürzte Fassung des Abenteuers „Die Quelle der Geister“. Er beschreibt dabei die Umgebung, Ereignisse und übernimmt verschiedene Rollen von anderen Bewohnern oder feindlich gesinnten Kreaturen, auf die die Spieler mit Ihren Eigenschaften und Fähigkeiten reagieren und durch Würfelproben ihren Erfolg prüfen müssen.
Rocket Beans TV und die Zombie-Apokalypse in „T.E.A.R.S.“
Einige Zeit später entdeckte ich, dass Rocket Beans TV bereits im März ein solches Format auf ihrem Kanal veröffentlicht hatten. Bei Pen & Paper „T.E.A.R.S“ handelt es sich allerdings um ein vom Spielleiter Hauke Gerdes eigenentwickeltes, postapokalyptisches Szenario, dass im Livestream aufgezeichnet wurde. Auch hier hielt man die Produktion bis zur kürzlichen Umsetzung des letzten Teils „T.E.A.R.5.“ überwiegend klassisch mit der „Spieler am Tisch“-Situation in der noch echte Würfel verwendet werden. Allerdings ging man schon ein bis zwei Schritte weiter. So konnten die Zuschauer per Umfragen zwischendurch den Verlauf des Abenteuers mitbestimmen, womit die Exklusivität des P&P Rollenspiels aufgebrochen wurde. Die Reihe besteht insgesamt, wie eben schon erwähnt, aus 5 Teilen mit jeweils ca. 6 Videos inklusive einem „Was wäre wenn?“ Q&A Teil in dem Hauke den Zuschauern auf Fragen über mögliche, alternative Verläufe des Abenteuers antwortet.
Ich muss zugeben, dass ich bisher nur den ersten Teil von „T.E.A.R.S.“ gesehen habe, was hauptsächlich an der chaotischen Gruppe liegt. Natürlich mag das für einige der vorrangig unterhaltsame Teil sein, ich persönlich folge aber lieber einem gut gespielten Abenteuer, weshalb ich da bisher eher etwas abgeschreckt war. Die nachfolgenden Episoden werde ich mir aber sicher irgendwann noch anschauen. Zahlen wie über 10.000 Livezuschauer im Stream und 300.000 Videoaufrufe auf YouTube sprechen immerhin für den Erfolg der Show.
itmeJP, „RollPlay“ und der Sprung zur digitalen Gruppe
Gegen Ende des letzten Jahres bin ich dann eher zufällig auf den Streamingkanal von JP „itmeJP“ McDaniel gestoßen, auf dem man nahezu wöchentlich, live neue Rollenspiel-Sessions zelebriert. Die Aufzeichnungen davon werden auch auf JP’s YouTube-Kanal veröffentlicht.
Seit 2013 produziert der Amerikaner zusammen mit anderen Persönlichkeiten aus der Gaming- und Streaming-Branche diverse Shows unter der Marke „RollPlay“, die unterschiedliche Gruppen in Abenteuer aus zahlreichen Regelwerken schickt. Eine Übersicht über alle bisherigen Shows und deren Teilnehmer kann man im Viewerguide finden.
Aktuell gehören dazu Pen & Paper Systeme, wie „Stars Without Number“ für die SciFi-Show „Swan Song“ (DM: Adam “skinnyghost” Koebel), das „Shadowrun„-Regelwerk für das Cyberpunk-Setting von „Mirrorshades“ (DM: Adam “skinnyghost” Koebel) und auch das aktuelle „Dungeons & Dragons“ 5E in teilweise abgewandelter Form für „Solum“ (DM: Neal “koibu” Erickson) und meinem persönlichen Favoriten „West Marches“ (DM: Steven “Silent0siris” Lumpkin).
Zusätzlich zur Regelmäßigkeit der einzelnen Folgen bzw. dem großen Archiv an bereits gespielten Sessions fasziniert mich vor allem die Art der Umsetzung.
Im Gegensatz zu den OrkenspalterTV Let’s Plays oder „T.E.A.R.S.“ von den Rocket Beans befinden sich die 4 Spieler und der Spielleiter nicht zwangsweise am selben Tisch, geschweige denn am selben Ort, sondern spielen ihre Runde innerhalb eines Videoanrufs per Software wie Skype. Die Webcams werden dabei in ein, der Stimmung des Settings angepasstes, Layout eingebettet. Diese Art der Umsetzung erlaubt es Spielern von jedem Ort der Welt (mit Internetanbindung) an solchen Sessions teilzunehmen. Auch das Würfeln wird nicht mehr mit physischen Würfeln durchgeführt, sondern im Fall von „RollPlay“ durch das kostenlose Online-Table Top-Tool „Roll20“ erledigt.
Zu einem Livestream gehört natürlich auch ein Livechat den alle Spielteilnehmer lesen können. So kann es hin und wieder mal vorkommen, dass auf Fehler, die der Spielleiter oder die Spieler machen, hingewiesen wird. Je nach Spieler bzw. Spielleiter werden solche den Ablauf beeinflussende Kommentare allerdings eher gemieden. Eine direkte Einbindung des Chats innerhalb der Sessions, wie, bei „T.E.A.R.S.“ gibt es bei „RollPlay“ derzeit nicht. Votes, die das Geschick der Abenteuer beeinflussen können, gibt es bisher nur im Fall von „Mirrorshades“ nach dem Livestream, wo die Zuschauer für Belohnungen der Spieler abstimmen können.
Die Spielleiter, die teilweise über einen Hintergund als Spielentwickler bzw. Designer verfügen) und JP als Produzent sind immer darauf bedacht, sowohl die Regelwerke zu Gunsten des Abenteuers als auch die Show für die Zuschauer transparent weiterzuentwickeln, was das Ganze auch ausserhalb der Shows zu einer spannenden Reise werden lässt. So geben die DM’s Adam Koebel und Steven Lumpkin in ihrer Show „Being Everything Else“ sowie in ihren „DM Turn“-Livestreams Einblicke in die Vorbereitung und Arbeit eines Spielleiters. Somit können die Zuschauer mitverfolgen, wie die Welt für die Abenteuerer entsteht und auch selbst lernen, was die Faszination über Pen & Paper Rollenspiele ausmacht.
Auf eingefleischte Pen & Paper-Veteranen mag diese Vorstellung einer solchen Digitalisierung vielleicht abschreckend wirken aber ich empfehle wirklich mal in eine Folge reinzuschauen. Mich fesselt es jedenfalls.
Warum das Ganze für mich so wichtig ist.
Für jemanden, wie mich, der eine natürliche Begeisterung für fiktive Geschichten aller Art hat, sind diese Rollenspiel-Streams und VoDs sozusagen ein „gefundenes Fressen“. Das Prinzip von Pen & Paper-Rollenspielen sorgt ja alleine schon für unendliche Möglichkeiten, die Entwicklung einer Geschichte verlaufen zu lassen. Begrenzt sind diese Möglichkeiten nur durch die Fantasie des Spielleiters bzw. der Spieler und des Regelwerkes. Vor allem letztere Limitierung sorgt meistens nur für einen einigermaßen geregelten und fairen Ablauf der Ereignisse, kann aber je nach Erfahrungsstand des Spielleiters jederzeit den Bedürfnissen angepasst bzw. „gehackt“ werden.
Als Show empfinde ich solche Rollenspielsessions psychologisch besonders Interessant, weil man sie sich wie ein Improtheater ohne direktes Drehbuch vorstellen kann. Die Spieler wissen nie, was der Spielleiter für sie bereit hält und sind somit gezwungen sich live vor den Zuschauern zu entscheiden, sich je nach zufälliger Situation entweder so zu verhalten, wie sie sich in der Realität auch verhalten würden oder eben ihrem festgelegten, fiktiven Charakter entsprechend. Da letzteres der Sinn der Sache ist, wird eine glaubwürdige und unterhaltsame Darstellung des Charakters entsprechend vom Spielleiter belohnt.
Als Zuschauer ist man sich von vorneherein bewusst, dass die Personen, die man dort auf dem Bildschirm sieht, in Rollen schlüpfen müssen, was das negative Gefühl ausschließt, dass diese Personen sich vor der Kamera in irgendeiner Form künstlich verstellen könnten, die nicht für jeden nachvollziehbar ist. Mir schwirrt dabei der Begriff „authentisches Schauspiel“ durch den Kopf. Also eine Form des Schauspiels von ganz normalen Personen, die aus der Situation heraus echt und nicht gekünstelt wirkt, weil man sich des Schauspiels ja bewusst ist, wenn das für Euch Sinn ergibt. Ohne dabei über die Qualität der Darstellung urteilen zu wollen. Auch eine schlechte Darstellung eines Charakters kann, muss aber nicht unbedingt, in diesem Fall sehr unterhaltsam wirken, weil ich sie als Zuschauer trotzdem als natürlich und nicht zwangsläufig als gekünstelt wahrnehme. Die einzelnen Folgen fühlen sich immer originell und kreativ an.
Gerade das hebt diese Erfahrung für mich momentan von anderen typischen YouTube und Streamformaten ab, die sich inzwischen einfach kaum noch echt anfühlen, es aber anscheinend verzweifelt versuchen zu sein. Dem stehen meiner Meinung nach aber die, unter den Produzenten weit verbreiteten, finanziellen Interessen und die daraus resultierenden Marketingtricks sowie Overacting und gekünsteltes Verhalten entgegen. Dann doch lieber bewusst fiktiv.
Weiterführende Links:
-> OrkenspalterTV auf YouTube
-> „Das Schwarze Auge“ bei Ulisses Spiele
-> Rocket Beans TV auf YouTube
-> Rocket Beans TV Livestream auf Twitch
-> „Roll20“ – kostenloses, Online-Table Top-Tool
-> „RollPlay“ – Viewerguide
-> itmeJP auf YouTube
-> itmeJP Livestream auf Twitch
-> „Dungeons & Dragons“ bei Wizards Of The Coast
-> „Shadowrun“ bei Pegasus Spiele
-> „Being Everything Else“ – Show für Pen & Paper Spielleiter mit Adam Koebel und Steven Lumpkin
-> „Stars Without Number“ – Leider konnte ich zu diesem Regelwerk keine offizielle Seite finden. Solltet Ihr eine kennen, füge ich die gerne nachträglich hinzu.
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